Schwester Albertines Welt
 
 Das Experiment   Die Hinterlassenschaft   Die Konstrukte   Die Drogenerfahrung   Heldin der Arbeit   Das Frühwerk   Die Entdeckung   Das Gruppenspiel
VeronesiHöpflinger
 
 
 

Schwester Albertine

Vor einiger Zeit wurde uns ein geheimnisvolles Paket mit einem eigentümlichen Inhalt zugestellt. Im sorgfältig verschnürten Paket befand sich eine Serie von über 200 Fotografien menschlicher Gesichter. In einem ausführlichen Begleitbrief stellte sich uns eine Schwester Albertine vor und unterbreitete uns ihr Anliegen ohne weiter auf ihre eigene Person einzugehen.
Aus dem Brief und gemäss unseren eigenen Nachforschungen lässt sich über Schwester Albertine das folgende zusammenfassen:

Um 1947 arbeitete Schwester Albertine an der Frankfurter Nervenklinik, wo sie Prof. Dr. K. Leonhard massgeblich in seiner Forschungsarbeit zur Ausdruckssprache der Seele unterstützte. Ob zwischen den beiden eine Liebesbeziehung bestand, konnten wir nicht feststellen. 1949 scheint es zu einer heftigen Auseinandersetzung über ihre Arbeitsbeziehung und den Forschungsinhalt gekommen zu sein, mit der Folge, dass Schwester Albertine spurlos verschwand und mit ihr das gesamte fotografische Archiv des Professors.
Dieses fotografische Material war nun die Grundlage für Schwester Albertines weitere Forschung, die sie gemäss ihrem Brief bis in die Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hauptsächlich in Sachsen betrieb. Eine der Flutkatastrophen, die die Region im letzten Jahr heimsuchten, betraf nun leider auch ihre Arbeitsstätte, in der sie im hohen Alter damit beschäftigt war, ihr umfangreiches Lebenswerk zu vollenden und vernichtete über Nacht den grössten Teil ihrer Aufzeichnungen.
Einzig die Grundlage ihrer Forschung sowie die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Werks konnten gerettet werden und liegen nun in unseren Händen.
„... und da ich Ihre Arbeit schon seit längerem mit grossem Interesse verfolge, setze ich alle Hoffnung in Sie und bitte Sie verzweifelt um Ihre Unterstützung. Hochachtungsvoll, Ihre Schwester Albertine"

Atelier  

 

Das Experiment

Schwester Albertines Experiment geht von der Annahme aus, dass menschliche Seelenzustände einen unmittelbaren Einfluss auf die ihnen ausgesetzte Natur haben.
Um diese Hypothese zu verifizieren, plazierte sie jeweils bis zu 200 Fotografien von Menschengesichtern in unterschiedlichen Seelenzuständen in der Landschaft und registrierte minutiös jede noch so unscheinbare Veränderung der Natur in der näheren Umgebung der jeweiligen Fotografie. Sei es nun, dass z.B. bestimmte Grasarten sich vom Bild „gerechter Zorn" abwandten oder dass sich Waldameisen besonders gerne und häufig in der Nähe des Bildes „ Männl. Koketterie" aufhielten. Schwester Albertine schildert in ihrem Brief auch die Beobachtung von mikro-klimatischen Einflüssen, wie z. B. kleinere Luftwirbel oder auch Luftfeuchtigkeitsschwankungen in der Nähe gewisser Bilder.

 

 

Die Hinterlassenschaft

Im Spätherbst des Jahres 2003, geraume Zeit nachdem wir Schwester Albertines Forschungsarbeit in Roveredo zum ersten Mal einer breiteren Oeffentlichkeit präsentieren konnte, erhielten wir per Spedition eine schwere Holzkiste. In einem knappen Begleitbrief stellte sich Schwester Albertines Nichte vor und erklärte, dass die Kiste zum spärlichen Nachlass ihrer kürzlich verstorbenen Tante gehöre. Da es sich beim Inhalt offensichtlich um Reste ihrer Forschung handle, wolle sie uns diese zur freien Verfügung überlassen.

Der Inhalt der Kiste erwies sich als ebenso geheimnisvoll und voller Rätsel wie die ganze Biografie von Schwester Albertine.
Er bestand aus einer Anzahl sorgfältig in Stoff gewickelter, zum Teil arg beschädigter Specksteinfigurinen, die wir erst von einer hartnäckigen Schlammschicht befreien mussten, um zu erkennen, dass sie menschliche Körper in eigenartigen Körperhaltungen darstellten, die jeweils von einer kaum noch entzifferbaren Beschreibung begleitet wurden. Zudem enthielt die Kiste eine Reihe chemischer Gläser und Kolben gefüllt mit verschiedenen Flüssigkeiten und Latexformen.

Da sämtliche Aufzeichnungen von Schwester Albertine verschollen sind, lassen sich aufgrund der spärlichen Angaben im Brief und unseren eigenen Nachforschungen folgende Vermutungen anstellen:

Nachdem sich Schwester Albertine im Zwist von Dr. K. Leonhard getrennt hatte, fand sie eine Anstellung in Albert Schweitzers Urwaldhospital in Lambarene, wo sie ihre Forschungsarbeit in der Freizeit zusammen mit Einheimischen fortsetzte.

Ihr Hauptinteresse galt ganz offensichtlich dem Einfluss von Kultur und Natur auf Gebärdensprache und Gestik.
Die Figuren dienten wahrscheinlich dazu, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Deutung körperlicher Ausdrücke von seelischen Zuständen zu untersuchen.

Unterschiede in Stil, Detailtreue und Qualität der Figuren deuten daraufhin, dass Schwester Albertine eine Vielzahl von Menschen mit deren Herstellung betraut hat und dass nur ein kleiner Rest davon zu uns gelangt ist.
Gewisse ungewöhnliche Gebrauchspuren geben Anlass zu Spekulationen und werden gelegentlich dahingehend gedeutet, dass die Figuren auch kultischen Zwecken gedient haben könnten.

Lässt sich über die Bedeutung der Figurinen noch mutmassen, so liegt der Zweck und die Bestimmung der Glaskolben und ihrem mysteriösen Inhalt völlig im Dunkeln und es ist zu befürchten, dass Schwester Albertine das Geheimnis mit ins Grab nahm.

 


Albertine 

 

Schwester Albertine

 

 

Die Konstrukte

Beim Ordnen von Schwester Albertines spärlicher Hinterlassenschaft stiessen wir auf eine Reihe eigenartiger Konstruktionsskizzen und Diagrammen, die bis anhin unserer Aufmerksamkeit entgangen waren, da sie dazu benutzt worden waren, Glaskolben zu schützen. Eine Analyse von Schrift und Zeichnung lässt vermuten, dass sie in ihrer Zeit in Lambarene entstanden sind. Unsere Nachforschungen führten uns zudem zu der Annahme, dass es sich dabei um den Versuch handeln muss, körperliche Gemütslagen in einem Gerüst nachzubauen und damit sich und anderen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in die Gemütslage anderer Menschen zu versetzen.

 

 

 

 

Die Drogenerfahrung

Zahlreiche Gerüchte ranken sich um Schwester Albertines Aufenthalt im afrikanischen Lambarene. Die meisten sind wild und abenteurlich und kaum zu überprüfen.
Das hartnäckigste jedoch beruht gemäss unseren intensiven Nachforschungen tatsächlich auf einem Erlebnis von Schwester Albertine.
Mehrere Zeitzeugen berichten übereinstimmend, sie habe sich in dieser Zeit besonders intensiv mit dem Bwiti-Kult beschäftigt. Der Bwiti-Kult ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und vermischt Einflüsse diverser afrikanischer Naturreligionen wie des Animismus und des Ahnenkults mit Lehren des Christentums.
Zentrale Bedeutung spielt die Initiation, bei der die Anwärter mitunter lebensgefährliche Mengen der halluzinogenen Ibogawurzel (Zauberpflanze der Pygmäen - Tabernanthe iboga) essen müssen, um in der Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
Es scheint erwiesen, dass Schwester Albertine an solchen Zeremonien teilgenommen hat und aktives Mitglied eines dieser animistischen Geheimbünde war.
Eine Reihe ihrer Tagebucheinträge gewinnt im Licht dieser Tatsachen eine ganze neue Bedeutung. Aufgrund dieser Erkenntnisse haben wir Schwester Albertines Hinterlassenschaft einer neuen Prüfung unterzogen.
Die drei im Jahr 2006 in Roveredo präsentierten Schirmobjekte, sind ein Versuch, einen Teil von Schwester Albertines Visionen während der Einweihungsrituale einem breiteren, auch jugendlichen Publikum auf gefahrlose Weise zu vermitteln.

 

Schwester Albertine  

 

Heldin der Arbeit

Schwester Albertines Zeit in der ehemaligen DDR ist äusserst schwer rekonstruierbar und von widersprüchlichen Zeugnissen begleitet.
In einem stimmen die Zeitzeugen aber überein: In der frühen Aufbauzeit der DDR soll Schwester Albertine durch eine ganze eigene Strategie während den Volksaufmärschen aufgefallen sein. Bei diesen Versammlungen soll es ihr und einer Gruppe von Eingeweihten gelungen sein, durch eigenartige bunte Flaggen die Masse der Teilnehmer in ihrem Arbeitswillen zu stärken und zur wesentlichen Steigerung der Produktion in verschiedenen Betrieben beizutragen.
Dieser beispiellose Einsatz trug ihr den Titel der Heldin der Arbeit ein. Schwester Albertine soll sich aber mehr und mehr der Vereinahmung durch die Obrigkeit entzogen haben und mit ihren immer wilderen Flaggen ganz andere Ziele verfolgt haben.
Ihr Widerstand ging soweit, dass man ihr den Titel Heldin der Arbeit aberkannte und ihre Gegenwart aus allen offiziellen Dokumenten tilgte.

Über die Ziele ihrer Aktionen gehen die Meinungen stark auseinander. So wird einerseits behauptet, es sei ihr gelungen, ganze 1. Mai Veranstaltungen durch den gezielten Einsatz ihrer Flaggen in freie Diskussionsforen zu verwandeln, wo die Beteiligten sich in aller Offenheit über den Sinn des Staatsapparates unterhielten, ohne dass die Stasi ihr je einen direkten Einfluss hätte nachweisen können. Andere behaupten, sie hätte die Volksmasse nur aus Selbstsucht manipuliert oder gehen sogar soweit, sie als Agentin im Auftrag des kapitalistischen Westens zu bezeichnen.

In Anbetracht von Schwester Albertines Biographie vermuten wir hingegen, dass sie versucht hat, durch geschickte Kombination von Material und Farbenspiel, die Bevölkerung zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit ihrer Befindlichkeit zu bewegen.

 

 

Heldin der Arbeit  

 

Das Frühwerk

Eine unscheinbare Randbemerkung in einer polnischen Zeitung führte uns zu Schwester Albertines Frühwerk.

Eine Jagdgruppe hatte in einer schwerzugänglichen Waldlichtung eigenartige hängende Holzfiguren entdeckt, die sich zum Teil immer noch über Seilzüge bewegen liessen.

Gemäss unseren Quellen soll Albertine nach dem grossen Krieg ihre spätere Jugendzeit genau in dieser Gegend verbracht haben.
Ihr Vater musste sich nach dem finanziellen Ruin dort als Schmied und Waldarbeiter verdingen, und er lebte mit seiner Tochter in einer kleinen Waldschmiede nahe der Fundstelle.

In dieser Zeit muss sich auch ihr unbändiger Forschungsdrang und ihr Interesse für alle menschlichen Regungen entwickelt  haben.
Mit dem Material, das ihr in der Schmiede und im Wald zur Verfügung stand, fertigte sie zum Studium der Gestik die einzigartigen Holzfiguren. Für Roveredo haben wir diese Figuren aufgrund der spärlichen Funde und unserer reichen Kenntnis von Schwester Albertines Werk rekonstruiert.

Das Frühwerk  

 

Die Entdeckung eines neuen Kontinents

Schwester Albertines abenteuerliche Flucht aus der DDR ist Legende. Auf Umwegen landete sie in  San Francisco,  Dort fand sie den Nährboden für ihre Ideen, den sie in der DDR so bitter vermisst hatte.  Die junge Subkultur war  offen für ihre Ideen von kultureller und politischer Dezentralisierung, Umweltbewusstsein , Bewusstseinserweiterung und  das Leben in Kommunen.

Ihre Erfahrung mit Massenveranstaltungen war im Umfeld von Hippie-Guru und Drogen-Papst Timothy Leary äusserst willkommen und soll wesentlich zum legendären „Human-Be-In“ im Januar 67 inspiriert haben.

Aber Schwester Albertines grösste Leistung war die Entdeckung eines beinahe unerforschten Kontinents – dem Bauch.

Dem engen Klima der DDR entronnen, war sie fasziniert von der  permanenten Zurschaustellung des Bauches in Amerika. Von den Truckern mit ihren viel zu kurzen T-Shirts bis zu den bauchfreien Hippiegirls.

Mit dem ihr eigenen Forscherdrang erkundete sie dieses neue Terrain mit allen möglichen Mitteln und betrieb umfangreiche Studien zu Bauch und Darm im Gegensatz zu Kopf und Hirn.

Ihre Entdeckungen zum Bauch als zweites Gehirn nahmen Ideen vorweg, die erst in jüngster Zeit durch die Wissenschaft bestätigt wurden.

Schwester Albertines Hauptinteresse galt dem Bauch als Spiegel des menschlichen Einfühlungsvermögens.

Zur exakten Berechnung der Empathie entwickelte sie eine Formel, die bis heute leider verschollen ist. Aufgrund der verbliebenen Aufzeichnungen können wir in unserer Rekonstruktion nur Annäherungswerte angeben, die auf den Parametern Volumen, Wölbung, vertikale und horizontale Verzerrung und letztlich auf unserer eigenen Empathie beruhen.

 

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Gruppenspiel


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